"Ich aber werde dunkel sein..." Leben und Werk des Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792)

"Ich kann's allen aufgeklärten Deutschen zumuthen, daß sie diese neue ganz eigentümliche Schöpfung unsers Shakespears, des unsterblichen Dr. Göthe, schon werden gelesen, empfunden, angestaunt haben" - mit diesen überschwenglichen Worten begrüßte Christian F. D. Schubart 1774 in der "Deutschen Chronik" den anonym erschienen "Hofmeister", den er mit einer merkwürdigen Selbstverständlichkeit Goehte zuschrieb. Grund für die Verwechslung war die offene Form des Dramas, für die in Deutschland zuerst Goehte mit seinem "Götz von Berlichingen" den Weg gebahnt hatte. Viele Leser des "Hofmeister" dachten, daß der geniale Erneuerer nach dem "Götz" und dem "Werther" mit der aktuellen Überraschung den Tempel der idealen Kunst endgültig abzureißen beabsichtigte: Die mit einem unbefangenen Realismus dargestellte Kastrationsgeschichte, die weder große Persönlichkeiten noch ungemein lustige Figurentypen aufwies, sorgte 1774 für genügend Provokation. Allerdings stammte sie nicht von Goehte, sondern von seinem Straßburger Freund Lenz.

Dieser erlebte in Straßburg seine produktivste Phase. Er konzipierte 40 Dramen, führte sechs davon aus und hinterließ 20 als Fragmente. Außerdem arbeitete er an Dramenübersetzungen, Prosaschriften, zahlreichen Gedichten und mehreren theoretischen Aufsätzen. Jenseits der aristotelischen Regelpoetik und der idealisierenden Darstellung integrierte Lenz Elemente mehrerer literarischer Gattungen in seinen Dramen. Entlang der aufgebrochenen Gattungsgrenzen entstand ein für seine Zeit unspezifisches "Mischprodukt", dessen Zuordnung zu literarischen Stömungen und Formen bis heute mit Schwierigkeiten behaftet ist.

Die Konflikte seiner Stücke entsprangen hier den existentiellen Umständen und den inneren Widersprüchen der Figuren. Während das bürgerliche Trauerspiel der Selbstfindung einer gesellschaftlichen Klasse dient und den Charakter des politischen Appells trägt, rückt bei Lenz und anderen Sturm-und-Drang-Dichtern das anthropologische Problem der menschlichen Natur in den Mittelpunkt. Mehr als die politischen Dissonanzen wurden hier die persönlichen Barrieren der Figuren aufgedeckt, die sie außerstande sein ließen, von den aufklärerischen Lösungs- und Sinnangeboten Gebrauch zu machen. Insbesondere thematisierte Lenz den Geschlechtertrieb, dessen Stärke und Äußerungsformen er mannigfaltig problematisierte. So kastriert sich der Hofmeister, um seiner Triebe Herr zu werden, ähnlich wie Lenz in den "Soldaten" diesen Drang der Uniformierten von unschuldigen Bürgerstöchtern auf deren Ehefrauen umgelenkt sehen möchte, so legte er in den "Soldaten" den Grundstein für seine spätere Reformschrift über die Soldatenehen.

In den Bearbeitungen von Brecht, Heiner Kipphardt und Christoph Hein wirken Lenzens Dramen bis heute fort.
 
Das Mädchen das die Hauptfigur meiner "Soldaten" ausmacht, lebt gegenwärtig in der süßen Erwartung ihren Bräutigam, das ein Offizier ist, getreu wiederkehren zu sehen. Ob der's tut oder sie betrügt, steht bei Gott. Betrügt er sie, so könnten die Soldaten nicht bald genug bekannt gemacht werden um den Menschen zu zerscheitern oder zu seiner Pflicht vielleicht zurückzupeitschen. Betrügt er sie nicht, so könnte vielleicht das Stück ihr ganzes Glück und ihre Ehre verderben, obschon nichts als einige Farben des Details von ihr entlehnt sind und ich das Ganze zusammengelogen habe.
Lenz an Herder, Darmstadt, Ende März 1776


Titelseite der Erstausgabe


[Start] [Übersicht] [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13] [14] [15] [16] [17] [18] [19] [20] [21] [22]
[Literatur] [Links] [Impressum]

zur Startseite