"Ich aber werde dunkel sein..." Leben und Werk des Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792)

Der sich noch in Berka aufhaltende Lenz wurde im September 1776 von Charlotte von Stein nach Kochberg, dem damaligen Sommersitz der Familie, eingeladen.

Charlotte von Stein, Bleistiftzeichnung. Selbstbildnis(?).

Lenz nahm die Offerte gern an, wohl wissend, wie problematisch diese für seinen Freund Goethe sein mußte. Dieser bemühte sich bekanntlich seit seiner Ankunft in Weimar im Juli 1775 um die Zuneigung der Frau von Stein.

Lenz unterwies Charlotte von Stein im Zeichnen und in der englischen Sprache. Auf gemeinsamen Spaziergängen verband man das Nützliche mit dem Angenehmen. Als Englisch-"Lehrbuch" diente beiden eine Ausgabe von Shakespeares Werken.
Ich bin in Kochberg bei der liebenswürdigsten und geistreichsten Dame, die ich kenne, mit der ich seit vier, fünf Wochen den englischen Shakespeare lese. Künftige Woche gehts leider schon wieder nach Weimar... Göthe habe ich nun lang nicht gesehen; er ist so von Geschäften absorbiert in W., daß er den Herzog nicht einmal hat herbegleiten können.
Brief Lenz' an Johann Daniel Salzmann, Kochberg, 23. Oktober 1776


Während seines Aufenthalts in Kochberg zeichnete Lenz die in der Nähe von Kochberg gelegene Landschaft Bruchau, die Charlotte von Stein als ihre Grabstätte ausgesucht hatte. Unter der Bleistiftzeichnung ist Lenzens sechszeiliges Lobgedicht an Frau von Stein zu lesen:


Ach soll soviele Trefflichkeit
So wenig Erde decken
In diesem dürren Moosekleid
Mit kümmerlichen Hecken?
Ist dieses schlechte Kissen werth
Daß hier dein Haupt der Ruh begehrt?

Auf der Rückseite der Zeichnung steht das Datum 18. Oktober 1776 und eine Widmung an den Freund Goethe: "A place in Kochberg called the Bruchau the tomb of Lady St: from Lenz to his Friend Goethe."
 
  So soll ich dich verlassen liebes Zimmer
Wo in mein Herz der Himmel niedersank
Den ich aus ihrem Blick, wie selig, aus dem Schimmer
Der Gottheit auf der Wange trank
Wenn sich ihr Herz nach ihm nach ihm empörte
Wenn sie mit Shakespeare der ihren Geist umfing,
Ha zitternd oft für Furcht und Freude
Der Engel Lust im süßen Unschuldskleide
In die Mysterien des hohen Schicksals ging
Auch ich sah ihren Pfad, auch mir
War es vergönnt ein Röschen drauf zu streuen
Zur Priesterin des Gottes sie zu weihen
Und hinzuknien vor ihm und ihr
  Ach wär ich nur so rein gewesen
Als die Erscheinung dieses Glücks
Vorausgesetzt. Ihr höhern Wesen
Verzeiht dem Strauchelnden, euch waren sie erlesen
Doch Ewigkeiten Lust sind Kranken die genesen
Nur Freuden eines Augenblicks
  Ja es erwarten dich du Himmelskind! der Freuden
Unzählige, durch selbstgemachte Leiden
Dir unbegreiflich, längst erkauft,
Mit Tränen ingeheim getauft.
Ja es erwarted Dich, was du nicht lösen könntest
Der Rätsel Allentwicklung
Und höherer Gefühle Schwung
Wovor dir schwindele, die du dir selbst nicht gönntest

Indessen wird die weiße Hand
Des Jünglings Ungestüm beschränken
Und wenn die Seele schon auf blassen Lippen stand
Die Lust zum Leben wiederschenken
Ich aber werde dunkel seyn
Und gehe meinen Weg allein
Lenz: Abschied von Kochberg


Vom 26. bis zum 31. Oktober 1776, in den letzten fünf Tagen von Lenzens Aufenthalt in Kochberg, schrieb Goethe "Die Geschwister" nieder.

Die intime Schwester-Bruder-Liebe zwischen Wilhelm und Marianne im Stück wird von dem freienden Fabrice gefährdet. Marianne zeigt eine gewisse Neigung zu Fabrice, nimmt aber ihr Heiratsversprechen gleich zurück, nachdem Wilhelm gesteht, daß sie nicht blutsverwandt sind. Marianne ist die Tochter von Wilhelms verstorbener Geliebten Charlotte, die vor ihrem Tod ihr "Ebenbild" Wilhelm hinterließ. Nach dieser Enthüllung steht ihrer Hochzeit nichts im Wege.

Die von Wilhelm vorgelesene Stelle aus Charlottes Brief stammt vermutlich wörtlich aus einem Brief von Charlotte von Stein an Goethe. Die Darstellung des Dreieckskonflikts im Schauspiel unterstützt die Annahme, daß Goethes wachsende Eifersucht auf Lenz "Die Geschister" "erfinden" ließ.


[Start] [Übersicht] [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13] [14] [15] [16] [17] [18] [19] [20] [21] [22]
[Literatur] [Links] [Impressum]

zur Startseite